Ein Sohn ist heute mitgekommen. Ein TN übernimmt die Rolle des Vorlesers beim täglichen Wiederholen der Hausgegenstände. Bei den Essen-Trinken-Kochen-Sätzen von gestern hätte ich normalerweise übernommen, ich bitte jedoch Abdalramah nach vorne. Der Vater guckt etwas beunruhigt. Der Sohn lässt sich darauf ein. Er beginnt: „Zum Frühstück essen wir eine Scheibe Brot und…“. Das „Frühstück“ hört sich wohltuend wie „Frühstück“ an. Probleme gibt es, wie bei allen TN wenn sie lesen, bei Wörtern mit „ei“ bzw. „ie“:„Scheibe (Schiebe), mein (mien). Jeden Tag zähle und schreibe ich: eins, zwei, drei, vier. Das klappt, nur beim Lesen noch nicht.
Ich bitte um ausgiebigen Applaus für Abdalrahmah, den bekommt er auch. Ich lade ihn ein, immer, wenn er keine Schule hat, hierher zu kommen und natürlich: Schule ist viel wichtiger als hier zu sein. Abdalramah ist 13, wirkt jedoch jünger.
Dann arbeiten wir die Liste der Obstsorten ab und ich ergänze, wann sie welche Sorten am besten kaufen und mache Werbung für die regionalen Produkte von unseren Obstbauern: frisch, preiswert und gesund. Obstsorten geht ziemlich flott. Um 10 Uhr sind wir fertig.
Bisher haben wir ca. 600 Wörter gelernt und, abgesehen von heute und gestern, alle mindestens 10-20 Mal über mehrere Tage wiederholt, einzeln und in der Gruppe. „Laut, laut“ sage ich dann immer. Das ist besser für das Gehirn, es hört dann mit (Danke Hirnforschung).
Ich verteile die Broschüre „Praktikumsleitfaden“ (danke liebe Mitarbeiterin vom IHK). Ich male noch mal Grundschule – Hauptschule/Realschule (aus „Nach vorne führen..“) –Abschluss der Schule – Praktikum und Ausbildung (mit Abschluss). Ich mache Mut sich über ein Praktikum Gedanken zu machen. Und formuliere vorsichtig, dass der Mann, der Schweißer ist, sich hier auch weiterzubilden hat, bevor er eine Arbeit bekommen kann (Das hat die Handwerkkammer mir gesagt, die Einladung für den Mann habe ich schon vorliegen). Für ein Praktikum gibt es als Asylsuchende Möglichkeiten. Ich rege an, die Seiten mit wenig Text schon mal zu lesen und mit dem Smartphone zu übersetzen. Nächste Woche lesen wir noch eine Geschichte aus „Nach vorne führen viele Wege“ und dann werden wir uns mit dem Praktikumleitfaden beschäftigen.
Ich frage sie auch bis nächste Woche aufzuschreiben, welchen Beruf sie im Heimatland hatten oder hier nachgehen möchten. Und bestärke die Frauen, dass es bei uns total normal ist, wenn Frauen arbeiten. Abgesehen von Müttern mit kleinen Kindern arbeiten alle jungen Frauen.
Die Dame mit Kopftuch habe ich noch nicht überzeugt.
Die Geschichten von Irina, Christian usw. haben sie alle brav geschrieben. Ich lobe alle für die schöne Handschrift, die sie haben. Zehn Geschichten insgesamt sollen sie schreiben. Sie sollen die geschriebenen Geschichten zusammen mit der Broschüre „Nach vorne..“ in dem Ordner aufbewahren und sie überall zeigen, wo es angebracht ist. Ich bin mir sicher, sie werden nicht viele Worte brauchen, um Anerkennung für das Geleistete zu bekommen und es wird ihre Chancen auf eine schnelle Integration erhöhen.
Nach der Pause kommt Zahlendiktat. Gestern gab es wieder viele Fehler. Meine Frau hatte anhand der noch vorhandenen Fehler der Vortage eine weitere Reihe von 20 (schwierigen) Zahlen zusammengestellt. Ich wiederhole noch mal vierzehn und vierzig, sieben – siebzehn – siebenundzwanzig und siebzig. Und erkläre dem Papa von Abdulramah, dass es für ihn besser ist die Zahlen von rechts nach links zu schreiben, so wie er sie hört. Und los: 40, 50, 15, 60,…..
Zum Schluss kommt der Vater von Abdalrahmah auf mich zu. Er verrät mir, (sein Sohn übersetzt) dass er in Syrien nicht in der Schule war. Geahnt hatte ich es. Ich bestärke ihn: „Wissen Sie, für Sie ist das hier ungeheuer schwierig. Sie kommen jedoch jeden Tag. Nicht wie viele, die einen oder zwei Tage gekommen sind und dann wieder weggeblieben sind. Nein, Sie sind immer noch hier: das ist mutig, sehr mutig. Und gut für Sie und Abdalrahmah!“ Dankbar gibt er mir die Hand.