Tag 15: Kranke Kinder und von hinten lesen

Straßenszene vor dem Haus: Ein Ehepaar kommt mit dem Zug und ist immer schon um 8:40 Uhr vor Ort und wartet draußen. Weil die Frau aufgeschlossen wirkt und sie beide sehr kooperativ sind, habe ich mir angewöhnt, ihnen, wenn ich eintreffe, die Hand zu geben. Im Normalfall kommt der Mann etwas auf mich zu, gibt mir die Hand und sagt: „Guten Morgen, wie geht es Ihnen“. Die Frau wartet etwas abseits. Am Anfang hielt sie sogar die Augen niedergeschlagen. Da wir im Kurs die Begrüßung geübt-gespielt haben, kennen sie den Satz: „In Deutschland wird die Frau zuerst begrüßt“. Nach meinem „Danke, gut und selbst“ sagte ich dann immer „Die Frau zuerst“ Heute Morgen kam die Frau auf mich zu und begrüßte mich, danach der Mann. Ich lobe sie sehr. Schon wieder ein Schrittchen weiter in Deutschland angekommen. Ich freue mich.

Der Kurs ist dünn besetzt heute Morgen: zwei Kinder sind krank, die Mütter sind zuhause geblieben. Sie werden beide jedoch vom Ehemann/Schwager abgemeldet. Ein Mann ist zum Arzt, (hat sich abgemeldet) die Frau dürfte/wollte (ich weiß es nicht) nicht alleine kommen. Sie werden später gemeinsam mit ihrem Kind eintreffen.

Der gestern ausgewählte Mann macht seine Sache mit „das Haar – die Haare“ gut. Ich lasse ihn ziemlich viel vorlesen und wir sprechen nach. Danach verlange ich Applaus. Er bekommt viel Applaus, nur seine Frau klatscht nur dreimal. Ich gucke sie an, klatsche intensiv und sage „nochmal“. Jetzt bekommt er auch von seiner Frau entsprechend Applaus. Hat er sich auch redlich verdient. Er bringt „der – die – das- die“ beim Lesen noch ziemlich durcheinander. Zum ersten Mal erkläre ich Maskulinum, Femininum, Neutrum und Plural. Genügend Wörter kennen sie ja.

Nach den Zimmern und Gegenständen im Haus kommt Essen und Trinken. Stilles Wasser würden sie lieber „normales“ Wasser nennen, so wie im Garten. Ich verweise auf die Kinder, falls sie mal bei einer deutschen Mama zu Besuch sind. Bei der Gemüsesuppe lasse ich das Kind „Tschüss“  ein paar Mal wiederholen. Das Kind (4 Jahre) sagt ein perfektes „Tschüss“. So hört sich auch Küche und Gemüse an. Ich erkläre, dass Erwachsene diese Perfektion nach dem ca. 30. Lebensjahr nicht mehr erreichen können. Als Trost übe ich noch mal Kaffee (=قهوة / qahwa). Immer noch schmunzeln sie. Danach lernen wir „Gemüse“ Dies geht ziemlich flott. Knoblauch hatte ich vergessen, sie wollen wissen wie man das nennt. Ich singe ein Loblied auf die Spargel und dass es nur 6 Wochen lang Spargel gibt. Bei „10 Euro/kg“ teilen Sie meine Begeisterung nicht mehr so. Ich rate, zu einem Fest Spargel zu servieren. Und ich erkläre, wie man draußen im Feld ein Spargelfeld erkennen kann.

Zu den Gemüsesorten erwähne ich noch, in welcher Jahreszeit man bevorzugt einzelne Sorten kaufen sollte. Das interessiert sie sehr. (Tomaten im Winter sind teuer und schmecken nicht)

Die Schreibübung haben sie treu gemacht. Sie schreiben (viele haben eine sehr schöne Druckschrift) einen Text von ca. 100 Worten, mit Wörtern wie Realschulabschluss – Fachverkäuferin – Bäckereihandwerk in ca. 30 Minuten. Ein Mann hat von 9:15 Uhr bis 10:45 Uhr geschrieben. Ich erkläre dem Ehepaar noch mal die Uhrzeiten und mit Hilfe seiner Frau finden wir heraus, dass er um 9:45 Uhr aufgehört hat. Diese Zeiten hatte ich bei der Frau auch gesehen.

Dann ist „Hüsnü“ an der Reihe. Hüsnü ist Stellvertreter für die Flüchtlingskinder von heute. Er hat ein „Berufsvorbereitungsjahr“ absolviert. Ich erkläre noch mal, dass in der deutschen Sprache die einzelnen Wörter einfach zusammen geschrieben werden. Wenn Sie einen Text lesen, können sie derartige Wörter am besten von hinten lesen: das Jahr, das zu Vorbereitung auf den Beruf gemacht wird = Berufsvorbereitungsjahr. So wie Kopftuch und Gemüsesuppe. usw. .

Ich male den Werdegang, damit ich wieder „Praktikum“ und „Ausbildung“ den richtigen Platz im Werdegang geben kann. Ich staune, wie gut die Frau schon liest.

Tag 14: Schreibübungen gelungen und eine kleine Revanche 

Eine TNin führt uns durch die Körperteile und Körperverben. Dann kommt die nächste TNin und wir pauken die Zimmer im Haus und die Gegenstände im Wohnzimmer und Schlafzimmer. Dem Ehemann sage ich, ich werde ihn morgen bitten die Körperteile und –verben vorzulesen.
Er stöhnt, seine Frau beruhigt ihn.

Dann arbeiten wir die Küchenliste ab. Das ist einfach, weil der Raum einen kleinen Küchenteil hat, da kann ich Messer und Gabel usw. holen. Ein Küchensatz ist gemein:

Die Suppe kann eine Gemüsesuppe oder eine Markklößchensuppe sein.

(Willkommen in der Pfalz)

Bei „Gemüsesuppe“ müssen sich „ü“ und „u“ mindestens unterschiedlich anhören. Gemusesuppe gilt nicht. Da die Gemüsesuppe harte Arbeit ist und viel schwieriger als „Im Frühling blühen die Blumen“ gönne ich den TN einen Bonbon: Ich versuche das arabische Wort für „Kaffee“ auszusprechen. Dies gelingt natürlich auch nur zu 60 %. Schmunzeln, die Lage entspannt sich wieder.

Und inzwischen kennen wir schon viele Sammelbegriffe: Eltern für Vater und Mutter, Kinder für Sohn und Tochter, Geschwister, Streife für zwei Polizisten und jetzt „Gemüse“.

Und wir lernen die einmalige Eigenschaft der deutschen Sprache, was für Ausländer ungemein schwierig ist, Wörter einfach zu einem Wort zusammensetzen zu können: wir kennen schon Kopftuch (eine TNin), Fußstreife, Dachboden, usw. und jetzt Gemüsesuppe. Da helfen auch keine Englisch Kenntnisse (vegetable soup = zwei Worte).

Dann verteile ich die restlichen Ordner. Ich konnte sie unmöglich auf einmal tragen. Die ersten Schreibübungen liegen vor. Da Startzeit und Endzeit dokumentiert sind, sehe ich, dass Alle die, die Geschichte von Irina aufgeschrieben haben, es in etwa 30 Minuten geschafft haben. Einer hat (auch in 30 Minuten) nur die Hälfte geschafft: Er hat eine sehr schöne Druckschrift, obwohl er kaum lesen kann. Ich lobe und unterschreibe mit „Dr. De Clercq Arnold“ und sage: „Psst, das ist ein Geheimnis, der „Dr.“ hilft beim Sozialamt und der Kreisverwaltung.“

Mein pfiffiger junger Schüler ist auch wieder zu Besuch. Heute kann er mir schon erzählen, dass er in einer Klasse mit 18 Schülern sitzt. Auch deutsche Schüler sind dabei. Ich lege ihm ans Herz, ziemlich intensiv, er soll sich auch deutsche Freunde suchen und in der Pause nicht nur arabisch sprechen sondern versuchen deutsch zu reden oder mindestens zuzuhören. Beim Satz „Kinder essen lieber Spaghetti“ und ich das Wort „lieber“ erklären will, meint er dass er es weiß. Ich erkläre allen den Unterschied zwischen „Liebe“ und lieberrrrrrrrrr“.

Dann kommt Christina, die Friseurin. Zum ersten Mal erwähne ich das Wort „Asyl“ und erkläre dass sie ohne Asyl nicht arbeiten dürfen, jedoch sehr wohl ein Praktikum absolvieren dürfen. Eine TNin liest (die Frauen lesen einfach besser als die Männer) den Text. Das Wort „Hauptschulabschluss“ ist natürlich unmöglich. Ich helfe: Wie Gemüsesuppe: Hauptschule und Abschluss = Hauptschulabschluss. Der Weg von Christina ist gerade ein Musterbeispiel, das deren Werdegang hier in Deutschland darstellen könnte. Sie gleiten mir weg. Ich will sie wieder einfangen und singe ein Loblied auf Deutschland. Welch gutes Land das ist, wenn man das „Allgemeinwohl“ betrachtet. also gut für „ALLE“ Gruppen. Nicht nur für EINE Gruppe. Und mache Mut: „Gehen Sie Ihren Weg, in Deutschland ist es möglich UND lernen Sie die deutsche Sprache!“

Die Leserin von heute Morgen (vom Ehemann) frage ich, ob Sie morgen den Text von Hüsnü Mehmet (39) lesen will. Sie zögert sehr. Auf „Denken Sie, dass das geht?“ kommt „Ich weiss nicht“. Ich mache es kurz. Ich versuche mein „Bitteeeeee“. Damals in der BASF konnte (in Unterrichtstunden) auch Niemand wiederstehen. Sie sagt ja.
Die Augen des Ehemannes leuchten jetzt. Eine kleine Revanche!

Tag 13: Besuch von der Polizei und schreiben lernen

Heute kommt die Polizei! Wir beginnen gleich die Polizeisätze zu üben. Zum Beispiel:

Polizisten sind freundlich, höflich und korrekt.
Die Sicherheit des Bürgers ist der Polizei ganz wichtig.
Polizisten sind nicht bestechlich und sie beschimpfen niemanden.
Eine Fußstreife kann man grüßen, wenn man Augenkontakt hat – das gehört zur Höflichkeit.
Man kann Polizisten nach dem Weg fragen, immer werden sie versuchen zu helfen.

Ich erkläre jedes Wort und wir üben, üben, üben.

Dann kommt die Polizei. Wir haben Glück: eine Polizistin und ein Polizist. Wir begrüßen uns und dann erzähle ich meine „Frau = Mann“ Geschichte. Mann und Frau können hier Polizeibeamte werden. UND: Eine Polizistin kann alles was ein Polizist kann. Ich frage, wie schnell die Polizistin 100 Meter laufen kann: 14 Sekunden. Der Mann kann es in 15 Sekunden. Die Polizistin ist schneller. Ich betone es. Danach dürfen die TN die Polizeisätze nachsprechen. Und es passiert etwas Wunderbares. Die Polizeibeamten sind beeindruckt UND sie zeigen es auch.

Das ist mein Erfolgserlebnis. Ich erkläre: „Sehen sie es! Ich habe gesagt, die Menschen auf der Straße werden sie bewundern, nicht belächeln, wenn Sie sich bemühen. Haben Sie den Mann gesehen. Das war Bewunderung. Bewunderung für Sie und Ihre Leistung“. (Ich bin ganz stolz).

Dann stellen die Polizeibeamten sich vor. Sie erklären die Uniform, das Schild „Polizei“ auf Arm und Rücken. Der Name ist zu lesen. Sie erwähnen: Wir tragen die Waffe sichtbar für alle. Zeigen sie auch und zeigen uns auch die Handschellen. Wir dürfen mit zum Polizeiauto. Auch da wieder „Polizei“ auf der Motorhaube und alle Polizeiautos sehen gleich aus. Sirene, Blaulicht und Funk werden erörtert und natürlich was die Polizei für eine Unfallaufnahme braucht.

Total lieb: Unser kleiner Junge darf bei der Polizistin auf den Schoß. Der Papa ist ganz gerührt.

Eine Frau kommt vorbei, sieht diese Menschengruppe und das Polizeiauto. Ich gehe auf sie zu.

„Ist was mit den Flüchtlingen?“ fragt sie etwas geladen. Ich verneine und erzähle von dem Kurs und dass wir heute die Polizei zu Besuch haben. Sie schwenkt 180 Grad: Polizei und ich werden von der Dame sehr gelobt.

Auf Wiedersehen Polizei. Der Beamte erwidert: “Auf Wiedersehen und gerne wieder, es gehört zu unserer Aufgabe.  – Vielen Dank.

Nach der Pause verteile ich Ordner und Schreibpapier (danke liebe Spenderin). Ich habe einen Vordruck gemacht. Er sieht aus wie eine Hausarbeit: Datum – Name – Titel.

Ich erkläre, dass diejenigen, die hier bleiben werden, eines Tages richtigen Unterricht bekommen werden. Und je besser sie lesen und schreiben können, desto schneller wird die „Schule“ vorbei sein und sie können Arbeit suchen. Das leuchtet ein.

Die TN, die kaum oder nicht gut schreiben können, mögen jeden Tag eine Geschichte aus „Nach vorne führen viele Wege“, von Irina, Christian, Kristina usw. schreiben. Sie sollen es mitbringen und ich werde unterschreiben. Ich erkläre, dass sie die Broschüre und das Geschriebene jedem Beamten, der nach der Schreibfähigkeit oder auch nur nach dem Arbeitswillen fragt, zeigen können. Und ich verweise noch mal auf heute Morgen: „Jeder Mensch wird beeindruckt sein, so wie die Polizisten, die hier waren. Das ist gut für Sie, das ist gut für uns alle.“

Es kostet mich allerdings viele Worte, bis (fast) alle die Vorgehensweise verstehen.

Und dann passiert was Lustiges: Zahlendiktat. Der Klassenbeste sagt an meiner Stelle:“17“. Ich habe tatsächlich jeden Tag dasselbe Blatt mit Zahlen genommen, weil ich dachte, das können sie sich sowieso nicht merken. Und jetzt 17! Ich spiele, dass ich empört bin und erzähle, dass meine Frau schon von Anfang an sagte, ich soll jeden Tag andere Zahlen verwenden und ich: „Das können sie sich sowieso nicht merken“. Und wenn ich jetzt nach Hause komme und von der „17“ erzähle wird meine Frau sagen: „Siehst du, ich habe es gesagt.“
Die Frauen erkennen das und lachen sehr – die Männer finden es jedoch auch lustig.